In Nachfolge der griechischen Philosophie gilt Nietzsche schlechthin als Vertreter von „Lebenskunst“, wird so auch eingeführt im Rahmen von Foucaults „Selbstsorge“ und „Ästhetik der Existenz“. Lebenskunst konzentriert sich bei Nietzsche auf Selbstgestaltung, Selbsterschaffung und Selbststilisierung, um dem Individuum als Künstler, befreit von Normen und Moral, gerecht zu werden – was Wolfgang Kersting als „Stilwille“, „Individualitätsfeier“, „Selbsterfindungspathos“ beschreibt: Nietzsche und Foucault präsentieren somit die Figur eines „heroischen Individualismus“ (Kersting 2007, 15, 18).
Auch bei dem Mitbegründer der Psychoanalyse und ehemaligem Freudschüler, Alfred Adler (1870-1937) vermuten wir in einigen seiner Grundbegriffe, in seinem Menschenbild, in seinen therapeutischen und pädagogischen Vorstellungen einen Beitrag zur Lebenskunst, in dem zugleich Spuren von Nietzsche zu entdecken sind. Lemm-Hackenberg hat eine solche Verbindung zwischen Lebenskunst und Adler hergestellt, dies auf den Begriff „Lebensaufgaben“ bezogen. (Lemm-Hackenberg 2013).
Ich würde Adlers Beitrag zur Lebenskunst eher weiter fassen und eine ganz Reihe seiner Konzepte dazu rechnen, die ihn zum Teil mit Nietzsche verbinden, zum Teil aber auch in eine Gegenposition zu ihm bringen und bei Adler zu Instrumenten für ein humanes Zusammenleben gehören: als ‚Kompensation‘ im Sinne einer zielgerichteten Überwindung, als Erweiterung seiner Selbst oder auch als Streben nach ‚Macht‘. Das Schaffen des Selbst versteht Adler als ‚schöpferischen Akt‘ durch eine schöpferische Kraft, die dem Einzelnen dazu verhilft, einen ‚Lebensplan‘ als Leitlinie in der Gestaltung des Lebens zu entwickeln und einen ‚Lebensstil‘ zu kreieren. Zu einem befriedigenden, glücklichen und bei Adler sozial ,nützlichen‘ Leben kann dies führen, wenn die verschiedenen Bereiche oder (Lebens)Aufgaben ausgewogen sind, in einer guten Balance oder Kohärenz zueinander stehen, im Zusammenspiel und in der Auseinandersetzung mit den Anderen und den kulturellen Erfordernissen sind oder wenn sie sich von den Fesseln starrer oder verzerrter Fiktionen befreien können. Die betont pädagogischen, aber auch psychotherapeutischen Ansätze Adlers wären dann Anleitungen zu dieser befreienden Lebenskunst, zum guten Leben, das bei Adler nicht individualistisch, sondern nur im Zusammenleben verstanden wird.
- Adlers ambivalentes Verhältnis zu Nietzsche
Adler wurde oft, bereits zu seinen Lebzeiten, in einen mehr oder weniger engen Zusammenhang zu Nietzsche gebracht, vor allem, weil er den Begriff des ‚Willens zur Macht‘ verwandte (vgl. dazu Bruder-Bezzel 2004a; 2010). Diese Zuordnung wird immer wieder, stolz oder bedauernd, vorgenommen, aber Adler selbst hat dies in seinen späteren Jahren zurückgewiesen. Er hat allerdings zu diesen Zuschreibungen Veranlassung gegeben, indem er Nietzsche verschiedentlich zitierte, ja ihn einmal als eine „ragende Säule“ seiner Theorie (1913, 123) bezeichnete und vor allem der Dimension der Macht in seiner Theorie einen zentralen Stellenwert einräumte. Darin schien er Nietzsche-Anhänger, aber gerade hinsichtlich des ‚Willens zur Macht‘ stand er später Nietzsche kritisch gegenüber.
Man musste Nietzsche nicht gelesen haben, um ihn zu kennen, er war bereits vor der Jahrhundertwende in aller Munde. Auch für Adler gehörte Nietzsche zu einem „Jugenderlebnis“, in seinem Fall verbunden mit sozialdemokratischen Studentenverbänden, zusammen mit seinem Freund, dem literarischen Rebellen Franz Blei. Als Sozialdemokrat traf Adler im weiteren auch bei manchen Sozialdemokraten auf Nietzsche-Begeisterung („Nietzscheanischer Sozialismus“ um die Zeitschrift „Neue Gesellschaft“, vgl. Aschheim 2000, 168ff., 180); akademisch-wissenschaftlich wurde seine Aufmerksamkeit dann durch den Philosophen Hans Vaihinger (1902, 1911) und dessen Begriffe der ‚Fiktion‘ und des ‚Als-Ob‘ auf Nietzsche gelenkt.
Es könnte auch sein, dass Adlers Interesse an Freud über Nietzsche vermittelt war, dass er in Freud Nietzsches Spuren (als „Entlarvungspsychologe“) sah und gesucht hat. Diese Verbindung allerdings hat Freud selbst bestritten.
Dass Adler Nietzsche selten wörtlich zitiert, Schlagwörter benutzt oder nur sinngemäß auf ihn verweist, ist noch kein Beleg dafür, dass er Nietzsche nicht gelesen hat. Die verschiedenen Bezüge, die Adler zu Nietzsche herstellt, deuten auf genauere Kenntnis, so dass wir von einer Nietzsche-Lektüre Adlers ausgehen können. Er bezieht sich auf Gedanken, die aus verschiedenen Nietzsche-Werken stammen, so auf Geburt der Tragödie, Genealogie der Moral, Menschliches, Allzumenschliches, Ecce Homo. Auch Wille zur Macht in der Ausgabe von 1901 könnte er, wie Kühn (1996, 242) vermutet, gelesen haben.
Vier Zeitabschnitte für Adlers Umgang mit Nietzsche
1908-1912: Adler nennt oder zitiert Nietzsche bis 1912 interessiert, aber nur gelegentlich. In der von Freud 1902 gegründeten Psychoanalytischen Mittwochgesellschaft, der Adler von Anfang an angehört, wird sein Interesse an Nietzsche mehrmals deutlich. 1908 – noch ganz Freudianer – meint er, in Nietzsche einen Philosophen zu sehen, der „unserer Denkweise am allernächsten stehe“ (Protokolle I, 1.4.1908, 336). Nietzsche habe „den Urtrieb unter allen Erscheinungsweisen der Kultur“ entdeckt, der dann „in der Kultur eine Umwandlung erfahren hat“ (ebd., 337). Mit „Urtrieb“ war wohl bereits hier der ‚Wille zur Macht‘, den er erst 1912 explizit als Begriff verwendet, gemeint. Mit „Umwandlung“ spricht er zugleich das Thema ‚Triebschicksal‘ an, worüber er zu dieser Zeit in seinem Aufsatz „Aggressionstrieb“ (1908) selbst schreibt. So scheinen auch die Betonung des Aggressiven, die Annahme eines Aggressionstriebs, die Abkehr von einem biologischen Triebmodell und vor allem der zentrale Begriff der Kompensation als ein Überwinden und Über-sich-hinaus-Wachsen auf einen Einfluss von Nietzsche hinzudeuten.
1912/13: Nach dem Bruch mit Freud (1911) bezieht sich Adler 1912 nun an zentralen Stellen explizit und bekenntnishaft auf Nietzsche – womit er seine Diskrepanz zu und zugleich seine Befreiung von Freud unterstreicht. Gegen Freuds Lust- und Selbsterhaltungstrieb, gegen Freuds „Libido als treibender Kraft“ übernimmt er Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ als „Primärtrieb“ und bekennt sich in seinem Hauptwerk Der Nervöse Charakter (1912a) zu ihm. Auch rühmt er Nietzsches „Intuition“, das „starke intuitive Erfassen“, das „Seelenkunde“ verlange: „Wenn ich den Namen Nietzsche nenne, so ist eine der ragenden Säulen unserer Kunst enthüllt“ (1913b, 123).
1918-1928: Mit der Einführung des ‚Gemeinschaftsgefühls‘ nach dem Ersten Weltkrieg wendet sich Adler offenbar von Nietzsche ab. Er zitiert ihn so gut wie gar nicht mehr. Der Wille zur Macht (als „Grundtrieb“) verschwindet in seiner Sprache. Gemeinschaftsgefühl als Bedürfnis und Fähigkeit des Menschen als sozialen Wesens wird zum Gegenspieler des Machtstrebens: es lenkt und formt die Kompensation in eine soziale Richtung.
1928: Ab 1928 grenzt Adler sich dann ausdrücklich und geradezu aggressiv von Nietzsche ab. Adlers Faszination von Nietzsche ist in Gereiztheit umgeschlagen. Er kritisiert verschärft das Machtstreben, kritisiert Nietzsches Übermenschen und das Fehlen des Gemeinschaftsgefühls. Es sei ein „Missverständnis“, dass man die Individualpsychologie „in die Nähe Nietzsches versetzt hat“ (1931c, 489). In dieser späteren Zeit aber führt er die Begriffe der ‚schöpferischen Kraft‘ und des ‚Lebensstils‘ ein, die dann wieder an Nietzsche denken lassen.
Adler war sicher von Nietzsche fasziniert und er war von seiner Zeit, die von Nietzsche durchdrungen war beeinflusst. So sind seine Grundgedanken der Kompensation und ihre Ausprägung als Wille zur Macht, auch die schöpferische Kraft als treibende Kraft sicher nicht ohne Nietzsche und ohne den damaligen antipositivistischen, neoromantischen Geist denkbar.
Andererseits darf der Einfluss Nietzsches auf Adler auch nicht überschätzt werden: nicht nur, weil Adler dies selbst zurückweist, sondern weil die Differenzen zwischen beiden beträchtlich sind – bis zur Gegensätzlichkeit in ihrem Menschenbild. Zudem hat es noch andere gesellschaftliche und kulturell-wissenschaftliche Strömungen gegeben, die Adlers Denken geprägt haben.
- Adlers Konzepte zur Lebenskunst im Vergleich zu Nietzsche
Kompensation
Adlers Grundgedanke individueller Psychodynamik ist der der Kompensation als zielgerichteter Überwindung von Schwäche und Mangel (‚Minderwertigkeitsgefühl‘), als Über-sich-hinausgehen, als Antriebskraft für Entwicklung. Zweifellos ist Nietzsche darin zumindest eine seiner Quellen. Dieses Instrument der Lebensgestaltung steht stets in Gefahr, in Übersteigerung und Erstarrung (Überkompensation) neurotisch zu entgleiten. Lebenskunst, als Mittel gedeihlicher Entwicklung, fordert, eine Balance, ein Gleichgewicht zwischen Antrieb und Übersteigerung herzustellen.
Kompensation als Überwinden hat ein aggressives Moment, das sich im Machtstreben oder im ‚männlichen Protest‘ ausdrückt – als Wunsch, die gesellschaftlich unterlegene Stellung des Weiblichen zu überwinden, als Wunsch, ein Mann sein zu wollen. Bei Adlers Kompensation als Überwindung geht es, im Unterschied zu Nietzsches „Überwinden“, nie um ein Überwinden zu einem Höheren schlechthin und nie um ein Überwinden des Menschen als Gattung, zum Übermenschen. Auch ist Überwinden keine Leistung besonderer Menschen, keine Auszeichnung, sondern die Fähigkeit eines jeden Menschen und sogar eher dann erzwungen, je weiter ,unten‘ sich einer wähnt.
Bei Nietzsche ist das Überwinden und Sich-Gestalten eine Auszeichnung, eine besondere Leistung: „Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein“ (SE 1, KSA 1, 338). Nur so kann er sich auch von der normierten Moral abheben (vgl. Gödde/Loukidelis 2014).
Bei dem kompensatorischen ‚männlichen Protest‘ verweist Adler kritisch auf eine Differenz zum Antifeministen Nietzsche: „Die Gleichstellung von Zügen der Unterwerfung mit Weiblichkeit, der Bewältigung mit Männlichkeit“, sei eine gesellschaftlich herrschende „falsche Analogie“, „die eine ganze Anzahl der feinsten Köpfe, – ich nenne nur Schopenhauer, Nietzsche, Moebius, Weininger – mit geistreichen Sophismen zu stützen gesucht haben“ (Adler 1910, 119).
Wille zur Macht und Streben nach Vollkommenheit
Adler hat 1912 den Begriff des Willens zur Macht als Kompensation eingeführt. Natürlich hat er diesen Begriff von Nietzsche übernommen und verweist auch explizit auf ihn. Er unterscheidet dabei zeitweise – mehr oder weniger (un)deutlich – zwischen Wille zur Macht als „Grundkraft“ und als Machtstreben.
Wille zur Macht als Grundkraft meint eine unbewusste psychologische Kraft, einen „Grundtrieb“ (1908: Urtrieb), der Leben in Bewegung bringt, als „ein Streben und Begehren, deren Anfänge tief in der menschlichen Natur begründet sind (1912a, 62; s.a. 41f., 67, 74, 91f.). Wille zur Macht als Machtstreben ist dagegen bei Adler einer radikalen Kritik ausgesetzt. Machtstreben des einzelnen und in der Gesellschaft ist für ihn aggressiv, zerstörerisch, ein Gift, das „hervorstechendste Übel in der Kultur“ (Adler 1927, 75). In übersteigerter Form wird das Machtstreben als krankhaft und krankmachend gesehen und kritisiert. Das Machtstreben ist eng mit sozialen, gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft, es impliziert eine hierarchische Achse von Oben und Unten und einen sozialen Vergleich.
Wille zur Macht erscheint in diesem Sinn von Machtstreben als „Herrschaft und Überlegenheit erstreben“ (Adler 1912a, 67), „Verlangen nach ausschließlicher Macht“ (ebd., 125), „Herrschaft gewinnen“, „Kampfbereitschaft“ (ebd., 213), als Neigung zur Despotie, Machtbegehren, Machtphantasie, Machtgier. Auch die „Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls“ oder der männliche Protest bedeuten, nicht nur über sich hinauswachsen, sondern Macht über andere haben, andere dominieren und erniedrigen wollen.
Darin ist Adler als schärfster Kritiker Nietzsches zu sehen – soweit wir Nietzsche als Verherrlicher der Macht verstehen. In diesem Sinne schreibt Manès Sperber: „Jedenfalls ist der Wille zur Macht, wie Nietzsche ihn auffasste, durchaus verschieden von jenem Machtstreben, dem Adler besonders in seiner Neurosenlehre einen großen Platz einräumt […]. Man kann sich kaum etwas Gegensätzlicheres denken […]“ (Sperber 1971, 75f.).
Einmal reklamiert Adler für seine Kritik an Macht und Despotie Dostojewski: „Wer gesehen hat, wie Dostojewski […] alle Phantasien ausströmen lässt in dem einen Begriff: Macht! […] wer in der menschlichen Seele die Neigung zur Despotie so erkannt hat wie Dostojewski, der darf heute noch als unser Lehrer gelten, als den ihn auch Nietzsche gefeiert hat“ (Adler 1918, 110).
Mit der Einführung des ‚Gemeinschaftsgefühls‘ 1918/19 verschärft Adler seine Kritik am Machtstreben, stellt ihm das „Streben nach Vollkommenheit“ gegenüber und verbindet es mit einer Kritik an Nietzsches Idee des ‚Übermenschen‘. Dieses Streben nach Vollkommenheit ist Kompensation (oder besser: Überkompensation), die im Einklang mit den Bedürfnissen der Gemeinschaft stehe. Er betont, „dass jedes Individuum von diesem Streben nach Vollkommenheit erfasst ist […], dass es gar nicht notwendig ist, wie der kühne Versuch Nietzsches gezeigt hat, es erst den Menschen einzuimpfen, dass sie sich zum Übermenschen entwickeln sollen“ (Adler 1933b, 552).
Adler setzt somit ein generelles, vielleicht gar anthropologisches Streben nach Vollkommenheit in Gegensatz zum individuellen, vereinzelten Streben nach dem Übermenschen, als der „Formel der Selbstüberwindung des Menschen“ (Schmid 1992, 199) schlechthin. In den 1930er Jahren polemisiert er gegen den Übermenschen und verbindet ihn mit Nietzsches Krankheit. Das Streben nach dem Übermenschentum ist für Adler das gesteigerte, ja krankhaft egoistische Machtstreben, Streben nach persönlicher Überlegenheit. Das Ziel der „persönlichen Überlegenheit“ – bis hin zur „Gottähnlichkeit“ – bilde einen „Gegensatz zur Mitarbeit“ (Adler 1933a, 79f). „In bescheidenerer Form erscheint das Ziel der Gottähnlichkeit in dem Gedanken vom ‚Übermenschen‘“ (ebd., 56). Nietzsches Übermensch ist für Adler das Überspannte, Despotische, Elitäre. Ein solcher Aristokratismus – der ja für Nietzsche insgesamt charakteristisch ist (vgl. Losurdo 2009) – steht Adlers Verständnis ganz entgegen.
Schöpferische Kraft
In den 1920er und 1930er Jahren führte Adler, gleichzeitig mit dem Streben nach Vollkommenheit, das Schöpferische, den Begriff der ‚schöpferischen Kraft‘ im Menschen ein, den er früher nur sehr gelegentlich ins Spiel gebracht hatte. Und hiermit sind wir sozusagen im Zentrum einer Lebenskunstlehre – auch der von Nietzsche – angekommen.
Adler fokussiert das Schöpferische in einer Zeit, in der er sich schon längst von Nietzsche abgewandt hat. Er hat daher diesen Begriff nie mit dem Namen Nietzsche verknüpft, obgleich gerade der Gedanke des „Schöpferischen“ mit Nietzsche verbunden wurde.
Da Adler in dieser Zeit in Amerika lebte, liegt es nahe, das „Schöpferische“ mit damaligen amerikanischen Konzepten von Selbstfindung und Selbstproduktion zu verbinden, die ideologisch die Ungebundenheit und Freiheit des Westens ausdrücken.
Schöpferisch oder schöpferische Kraft nennt Adler die basale Fähigkeit jedes Menschen, unbewusst aktiv, gestaltend zu sein, sie gehört für ihn zur Grundausstattung des Menschen: „Schon die einfache Wahrnehmung ist nicht objektiver Eindruck oder nur Erlebnis, sondern eine schöpferische Leistung von Vor- und Hintergedanken, bei der die ganze Persönlichkeit in Schwingung ist“ (Adler 1912b, 262). Darin kommt sein demokratisches, egalitäres Menschenbild zum Ausdruck, aber auch sein Plädoyer für die Finalität und seine Auffassung von der Dynamik der Persönlichkeit.
Mit dem Schöpferischen kommt etwas ins Spiel, was Züge von Freiheit, Unbestimmtheit, nicht Vorhersagbarem, nicht Determiniertem hat. Das Schöpferische ist relativ frei gegenüber den Determinanten von Anlage und Umwelt, aber bewegt sich doch im vorgegebenen Rahmen. Es bleibt ein Rest, der sich nicht deduzieren, ableiten, erklären lässt. Adler lässt Wahrscheinlichkeiten zu, einen spielerischen Umgang auch im Unbewussten: „Hier arbeitet das Kind im Reiche der Freiheit mit eigener schöpferischer Kraft. Man findet Wahrscheinlichkeiten […]. Hier gibt es tausend Möglichkeiten im Reiche der Freiheit und des Irrtums“ (Adler 1933a, 116). Dabei ist nicht gesagt, ob dieser frei gewordene Spielraum segensreich wirkt oder destruktiv gegen sich selbst und andere.
Schöpferische Kraft ist auch „Lebenskraft“, „die identisch ist mit dem Ich“ (Adler 1932a, 518), und das „Ich“ ist „eine Gebundenheit […], die sich selbstschöpferisch bildet, unter Gebrauch aller Möglichkeiten […]“ (Adler 1932b, 529). Das Schöpferische oder der schöpferische Lebensstil manifestiert sich in der „subjektiven Einschätzung“, „Meinung“, „persönlichen Auffassung“. „Jeder gestaltet sich in Übereinstimmung mit seiner persönlichen Sicht der Dinge“ (Adler 1930a, 207). Und diese Sicht der Dinge hat sich durch vielfältige Erfahrungen, durch die Auseinandersetzung mit der materialen und kulturellen Umwelt entwickelt, und hat Grundlagen in gewissen „Anlagen“. Anlage und Umwelt mit ihren vielfältigen Instanzen sind ihre „Bausteine“, begrenzen die Freiheit, seines Glückes Schmied zu sein. Das Schöpferische ist es also, was die Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Menschen ausmacht, was Adler stets und mit einiger Emphase hervorhebt und was das Subjekt zum „Kunstwerk“, „Bild“ erhebt, was es aber andererseits für seine eigene Lebensführung verantwortlich macht.
In der Einzigartigkeit des Individuums ist Adler sehr nahe an Nietzsche, der geradezu der Prophet der Einzigartigkeit war, aber – im Kontrast zu Adler – zugleich immer verbunden mit einer Absetzung von jeder Form von Normierung, was Nietzsche zum Verächter der Gemeinschaftlichkeit treibt, die ihm zur Herdenmäßigkeit gerät. Hierzu ein etwas längeres Zitat: „Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist.“. Darauf folgt die Anklage: „er weiss es, aber verbirgt es“. Die Menschen „verstecken sich unter Sitten und Meinungen“. Aus Furchtsamkeit und Faulheit werden sie zur „Fabrikwaare“. Ging es bis dahin um „den Menschen“, dann beginnt er nun zu differenzieren: „Die Künstler allein hassen dieses lässige Einhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen“, oder „der große Denker, [der] die Menschen verachtet“, oder „welcher nicht zur Masse gehören will“ (SE 1, KSA 1, 338f.). Dieses Sich-Absetzen, die Angst vor Selbstverlust, finden wir bei Adler nicht – eher im Gegenteil.
Adler wendet die Idee des Schöpferischen zum Bild der Persönlichkeit als Künstler und Kunstwerk, wie dies auch im Lebenskunstkonzept allgemein aufscheint und bei Nietzsche sehr ausgeprägt zu finden ist. So heißt es bei Adler: „Das Individuum ist sowohl das Bild als auch der Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit“ (Adler 1930a, 206). Die Persönlichkeit ist also „Bild“, d.h. Kunstwerk. Sie ist „gemacht“, kunstvoll aufgebaut und als solches ein Unikat, einzigartig. Und die Persönlichkeit ist zugleich selbst der Künstler oder Handwerker dieses Produkts. Die Person schafft sich selbst, erfindet seine Person, erzählt sich seine Geschichte, ist Subjekt seiner Geschichte.
Trotzdem ist das Subjekt kein Übermensch, keineswegs fehlerlos oder gottgleich: „als Künstler ist er weder in der Ausführung unfehlbar noch besitzt er ein umfassendes Verständnis von Seele und Körper“ (ebd. 1930a, 206). Das hat für die klinische Betrachtung und für den therapeutischen Umgang natürlich besondere Bedeutung: Auch die Neurose und die Symptomwahl sind „konstruktive Leistungen der Psyche“ (Adler 1912a, 317), auf Irrtümern oder starren Fiktionen aufgebaut oder: „Wir werden die Symptomwahl nur verstehen, wenn wir sie als Kunstwerk betrachten“ (Adler 1931b, 464f.), das auf Irrtümern oder starren Fiktionen aufgebaut ist.
Wenn die Persönlichkeit und ihre Äußerungen samt ihrer Neurosen Kunstwerke sind, sich nicht nach verallgemeinerbaren Gesetzen herstellen und ableiten lassen, dann ist auch therapeutisches ‚Verstehen‘, die ‚intuitive Einfühlung‘ eine ‚künstlerische Versenkung‘ und diesem Psychischen angemessen (Adler 1913a, 69). Therapie wie auch ‚Menschenkenntnis‘ sind für Adler daher eine Kunst, ein schöpferisches Wechselspiel.
Auch hier, zum Leben als Kunstwerk und Künstler seines Lebens sein, finden sich viele Ähnlichkeiten zu Nietzsche. Z.B. „wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst“ (FW 299, KSA 3, 538) Die Gestaltung seiner selbst erscheint als Gegenentwurf zu der durch Norm, Moral und Pflicht bestimmten Existenz notwendig (Schmid 1992, 191) – wobei mit Gegenentwurf wieder das Besondere zum Tragen kommt.
Und die aktive und passive Seite in der Menschwerdung wird in einer anderen Formulierung Nietzsches deutlich: „Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint“, wobei hier ‚Geschöpf‘ nicht wie bei Adler ‚Produkt‘, ‚Kunstwerk‘“ meint, sondern etwas Negatives, etwas „was geformt, gebrochen, geschmiedet… geläutert werden muss“ (JGB 225, KSA 3, 161). Der normierenden Moral, der „Sittlichkeit der Sitte“, stellt er die Selbstkonstituierung gegenüber (Schmid 1992, 186). Darin kommt wieder der Aristokratismus zum Vorschein: Nietzsche spricht von den „Besten“, die „ihr Leben nicht in fremde Hände legen, […] sondern […] mit gottgleichem Schaffenswillen als Selbstexperiment führen“ (Kersting 2007, 17).
Bei Adler hingegen ist das Schöpferische begrenzt durch äußere, vorgegebene kulturelle und materiale Bedingungen (die sich auch in psychologischen Mechanismen niederschlagen). Gleichwohl gibt es eine Reihe von Formulierungen, die diese Basis zu übersehen scheinen. Das war die Kritik der damaligen marxistischen Anhänger Adlers, wie z.B. Manes Sperber und Henry Jacoby, am Konzept des Schöpferischen, das sie ablehnten: Adler sei zur „irrationalen Willkür der Persönlichkeit“ geflüchtet, sei „restlos vom Kausalitätsprinzip abgewichen“, sei Teleologist“, „Indeterminist“ geworden (Sperber 1932, 15f., 18f.; vgl. Bruder-Bezzel 2004a, 69).
Im Vergleich dazu scheint Nietzsches „Selbsterfindungspathos“ (Kersting 2007, 18) noch weit mehr von einer fiktiven Autonomie getragen zu sein. Eine von vielen Stellen dazu: „Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten, folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben“ (SE, KSA 1, 339). Dieses „Wollen“ drückt bei Nietzsche wohl eher den Glauben an eine „bedingungslose Autonomie“ aus (Gödde/Loukidelis 2013, 4), die damit nicht nur die realen Grundlagen nicht einbezieht, sondern auch das Unbewusste nicht kennt, das doch die Ebene ist, aus der heraus wir vornehmlich handeln, und wodurch das „Ich“ nach Freud nicht souverän ist, sondern zum „dummen August“ wird. Gödde und Loukidelis heben an dieser Stelle den „appellativen Charakter“ des Textes hervor, „anzuspornen“, den „Spielraum der Selbstgestaltung zu benutzen“ (2014, 193). Dagegen gehört bei Kersting, auch Heidbrink (2007) diese Autonomieillusion, wie sie sich dann auch in den neuen „Selbstmanagement“-Versprechungen finden, zu den Einwänden gegen Nietzsche und gegen Lebenskunst.
Lebensstil
Aus den wiederholten Erfahrungen im Leben und den daraus geformten Meinungen bildet sich das, was Adler den Lebensstil nennt. Lebensstil ist ein „Schema“, ein „Bewegungsgesetz“ des Lebens, ist „Aktionslinie“, „Melodie“, in der alle Äußerungen und Charakterzüge zusammengefasst sind. Lebensstil meint die charakteristische, „immer wiederholte Art, wie einer sich […] den Fragen des Lebens gegenüber benimmt“ (Adler 1930a, 358); er enthält die „Meinung“ über sich und die „Welt“ (vgl. Bruder-Bezzel 1999, 196ff). So ist es nicht verwunderlich, dass Adler Lebensstil sowohl mit dem „Ich“ (Adler 1935, 72) als auch mit dem „Unbewussten“ gleichsetzt (Adler 1930b, 369).
Lebensstil ist eine Abstraktion von der Vielfalt der konkreten Erlebnisse und eine Generalisierung. Darin liegt die Verbindung zur Herausbildung eines ästhetischen Stils, worauf Adler selbst hingewiesen hat (Adler 1930b, 358).
Lebensstil ist Produkt der schöpferischen Kraft, ist das Werk des „Künstlers“. Der Lebensstil hat die Einflüsse und Erfahrungen in schöpferischer Weise verarbeitet, er ist die Antwort, die Stellungnahme auf die – physische oder psychologische – Realität, steht auf der Grundlage und in Abhängigkeit von bestimmten Umweltbedingungen. Damit aber ist der schöpferischen Kraft eine Grenze gesetzt, nun durch den Lebensstil. Der Lebensstil wird nach Adler frühzeitig festgelegt und beeinflusst, prägt alle weiteren Erfahrungen, er hat einen statischen Zug, er ist „der Kritik, auch der Kritik der Erfahrung entzogen“ (Adler 1933a, 25). Der „schöpferische Geist“ wird „in die Bahn des kindlichen Lebensstils gezwängt“ (ebd., 26). Das geschieht Adlers Meinung nach im Laufe der Entwicklung bereits im Alter von etwa drei bis fünf Jahren, was etwa Freuds Vorstellung vom frühkindlichen Entwicklungsabschluss entspricht. Die „freie“ schöpferische Kraft „in der ersten Kindheit“ wird zur „gebundenen Kraft“, also determinierend, „sobald das Kind sich ein festes Bewegungsgesetz für sein Leben gegeben hat“ (ebd., 25).
Nietzsche kann auch in der Frage des Lebensstils für Adler anregend gewesen sein. Allerdings waren in den 1920er Jahren, als Adler diesen Begriff einführte, Lebensstil und Stilisierung des Lebens auch mit der Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existentialphilosophie, Soziologie, und u.a. mit den Namen Dilthey und Simmel verbunden (vgl. Bruder-Bezzel 1999, 198ff.).
Wenn Nietzsche schreibt, „Eins ist Noth. Seinem Charakter Stil geben – eine große und seltene Kunst“ (FW 290, KSA 3, 530), umschreibt er die Art der Selbstkonstituierung des Subjekts, oder auch das, was Foucault die ‚Ästhetik der Existenz‘ nennt, „die vom Subjekt erwartet, sein Leben als Kunstwerk zu gestalten“ (Kersting 2007, 22). Günter Gödde und Jörg Zirfas heben mit der „Stilisierung“ Fähigkeiten und Fertigkeiten hervor, deren Zusammenspiel ein befriedigendes Leben garantiert (Gödde/Zirfas 2014, 35). Wiederum aber gilt die Fähigkeit zur Stilisierung nicht für alle, sondern ist eine Aufforderung an Einzelne, an eine Elite: „Starke Naturen suchen sich zu stilisieren“ (zit. n. Schmid 1992, 191), – es ist ja eine „große Kunst“, während Lebensstil bei Adler wiederum eine Fähigkeit für alle ist, und auch kein „Gegenentwurf zur normierten Moral“, wie dies für Nietzsche zutrifft.
- Lebensaufgaben im gemeinschaftlichen Zusammenhang
Lebensaufgaben sind bei Adler Bereiche des Lebens, mit denen sich jeder Mensch auseinandersetzen muss und an denen sich der Lebensstil, die Art des Umgangs, als Fähigkeit oder Unfähigkeit der Lebensbewältigung erweist. Es sind die Herausforderungen, die dem Leben eine Gestalt, vielleicht einen Sinn geben, an denen sich die Lebenskunst erweist. Adler spricht von drei Lebensaufgaben unterscheiden, nämlich Arbeit, Gemeinschaft/Freundschaft und Liebe/Ehe.
Adler nennt dies auch „die drei Bindungen“ und fügt hinzu, „dass keine Aufgabe […] für sich allein gelöst werden“ kann (Adler 1931a, 188f.). In einem gelungenen Leben würden sie in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander und stets in einem sozialen Kontext stehen, nie nur individuell zu bewältigen sein.
Rainer Lemm-Hackenberg (2013), der die Adlersschen Lebensaufgaben mit Lebenskunst verbunden hat, hat die Lebensaufgaben auf acht erweitert und kann sich darin auch auf Adler beziehen. Zu den drei Aufgaben kämen dann noch: Kunst, Individuation, Sorge um das leibliche Wohl, Hingabe, Berufung und Lebenszyklus. Ich verweise auf die interessanten Ausführungen dazu.
Adlers Lebensaufgaben erinnern stark an Kerstings vier „Großbereiche“ menschlicher Interessen und Bedürfnisse, von deren Bewältigung die „Lebenskönnerschaft“ abhängt: nämlich: 1. Gesundheit, 2. materielle Interessen (Konsum, Besitz), 3. soziale Interessen/Bedürfnisse und 4. Bedürfnis nach Sinn (Kersting 2007, 39f.). Auch Kersting betont, dass gelingendes Leben oder eine „Lebenskönnerschaft“ (ebd., 38) ein ausgewogenes Maß, eine Balance, erfordert, „hinreichende Berücksichtigung aller Interessenregionen“ (ebd., 41), keine „Verabsolutierung der einen Interessensphäre zu Lasten der andern“ (ebd., 40).
Die Adlersche Psychologie, alle seine Konzepte, die die Haltung und Ableitung zu einer Lebenskunst ausmachen, kann nicht auskommen ohne seine Vorstellung vom zutiefst sozialen Wesen des Menschen und aller damit verbundenen Folgen. Das drückt er im Begriff Gemeinschaft oder ‚Gemeinschaftsgefühl‘ aus, und Gemeinschaft war ja auch eine seiner von ihm herausgestellten drei Lebensaufgaben – aber alle drei haben einen sozialen Bezug.
Gemeinschaftsgefühl, Mensch als soziales Wesen, meint prinzipiell, dass wir, unser Denken, Fühlen, Sprechen etc. von sozialen Zusammenhängen geprägt sind, dass wir auf sie angewiesen bleiben und sogar ein Bedürfnis nach ihnen haben. Gemeinschaftsgefühl oder soziales Interesse gilt als Fähigkeit, als Disposition zu sozialem Verhalten, zu Zugehörigkeit, Kooperation, Mitarbeit, zu Rücksichtnahme und Gleichrangigkeit aller, als egalitäres, demokratisches Ideal, aber auch als Zwang und Forderung, Gemeinschaftsregeln zu erfüllen.
Ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl zu haben gilt für Adler als Zeichen der seelischen Gesundheit, Mangel an Gemeinschaftsgefühl als Zeichen neurotischer Entwicklung. Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl gehören also zu der Vorstellung eines guten, sinnvollen, „nützlichen“ Lebens und somit zur Lebenskunst.
Auch für Kersting gehört, wie wir gesehen haben, ein soziales Bedürfnis zu den elementaren Bedürfnissen, und dies ist auch der Ansatz seiner Kritik der Lebenskunst: „wir haben auch soziale Bedürfnisse, wir wollen geliebt werden und anerkannt werden, wir wollen Gemeinsamkeit mit anderen erleben. Wir benötigen die anderen, um uns in ihnen zu erkennen, um aus ihrer Wertschätzung Selbstwertgefühl zu gewinnen“ (Kersting 2007, 40).
Adler wird – nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, affirmativ, angepasst, ja geradezu naiv den gesellschaftlichen Forderungen gegenüber zu sein, die Gesellschaft über das Individuum zu stellen, die Notwendigkeit der Individuation nicht zu würdigen, wie dies u.a. auch Lemm-Hackenberg (2013, 174, 176) bedauert. Dagegen ist aber einzuwenden, dass Adlers Gemeinschaftsbegriff aus einer Kritik an der kriegerischen und wettbewerbszentrierten, kapitalistischen Gesellschaft heraus entstanden ist, der gegenüber ein emanzipatorisches, unabgegoltenes Bedürfnis nach solidarischen, gleichwertigen Beziehungen einzuklagen sei. In dieser Frage ist Adler auf jeden Fall nicht Nietzscheaner, sondern Antinietzscheianer. Zutiefst lehnt dieser doch jeden positiven Bezug zu einer sozialpsychologischen Orientierung ab, asl Niederung, als zu verachtendes Herdentum.
Aus seinem antidemokratischen Aristokratismus schöpft Nietzsche allerdings seine sehr feine, treffende und stechende Kritik an der Normierung, Kleinstädterei etc. (vgl. SE 1, KSA 1, 339), lastet dies allerdings zu sehr dem Einzelnen an.
Steht Adler mit seinem sozialpsychologischen, sozialen Blick auch im Gegensatz zum Konzept Lebenskunst insgesamt, wie man mit Kersting vermuten könnte? Soweit ich das richtig sehe, ist Lebenskunst in der Tat in aller Regel individualistisch, vielleicht sogar solipsistisch angelegt. Geht es nicht ständig um das Selbst, um Selbstgestaltung, Selbstentwurf und Selbstverwirklichung? Einen kulturellen, gesellschaftlichen Kontext scheint es hier nicht zu geben und wenn, dann nur als Hindernis und Barriere. Liegt hierin nicht gerade ein Webfehler dieses Konzepts und der Grund für Illusionen und Ideologien, die dem Muster neoliberalen Versprechens folgen?
Das Soziale ist für Kersting der Ansatz seiner Kritik der Lebenskunst. Er schreibt hierzu ernüchtert: „Wir leben in einem dichten Netz von Abhängigkeiten. Der demiurgische Ausweg in die Freiheit der Selbsterschaffung ist nicht in Sicht. Wir haben lediglich einen Spielraum, den wir für eudaimonistische Verbesserungsreparaturen nutzen können“ (Kersting 2007, 38). Und weiter: „All die Selbstbestimmungseuphemismen, mit denen die individualistische Gegenwartsgesellschaft sich selbst feiert, sind zurückzuweisen“ (ebd. 37f.); und man könnte ergänzen, diese Verheißungen der Selbstverwirklichung etc. sind blind, verleugnen die Zwänge, die Vorgaben, die Entfremdungen, sie sind oft nichts anderes, als glücklich darüber zu sein, die Unterdrückung in eigene Regie genommen zu haben: Freuds „dummer August“.
Von dieser Sicht her können wir dann die weitere Frage stellen, ob es bei Adler überhaupt um Lebenskunst geht oder um Moral, wie dies Kersting unterschieden hat. Die Lebenskunst erzählt, beschreibt, rät, es gehe in ihr um das einzelne Individuum, um Einmaligkeit der Lebensführung. Dagegen gehe es bei der Moral um den Allgemeinheitsmenschen, um Verwirklichung von Grundsätzen, der Einzelne soll wie jeder sein (ebd., 10f.).
Schauen wir uns Adler an, dann sehen wir sehr viel, was eher auf Moral als auf Lebenskunst verweist – was Adler auch immer wieder vorgeworfen wird. Andererseits betont er ja immer wieder die Einzigartigkeit, Einmaligkeit und Einheit/Ganzheit des Individuums, auch die nicht kausale Determinierung, das freie Schöpferische. Wenn wir allerdings Adlers Begriff von „Individuum“ nehmen, wie ihn Adler von Virchow ableitet, und wie er im Begriff ‚Individualpsychologie‘ verstanden werden will, wird uns klar, dass Individuum bei Adler immer schon gesehen wird als im Verband, als „eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken“; und in der sich der Mensch „zu einer planvoll gerichteten, einheitlichen Persönlichkeit“ aufbaut (Adler 1912a, 29). Dieses „Zusammenwirken“ soll für Adler zu einem guten gemeinsamen, solidarischen Leben führen.
Lebenskunst ist für Adler nur als soziales Ereignis und Ergebnis denkbar.
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